1. Mai Rede in Bülach

„Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Ich kenne keinen Satz, der die Ungleichheiten auf dieser Welt besser und prägnanter in Worte fassen kann als dieses Gedicht von Bertolt Brecht. Obwohl es auch fast siebzig Jahre nach seinem Erscheinen nach wie vor Gültigkeit hat, scheint es wenig zum aktuellen Zeitgeist zu passen. Ein Zeitgeist, der geprägt ist von der absurden Vorstellung, jeder und jede sei seines oder ihres eigenen Glückes Schmied. Wer will, der schafft es. Wer es nicht schafft, ja, der hat zu wenig gewollt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder und jede für sich alleine dafür verantwortlich zu sein scheint, ein erfülltes, glückliches, erfolgreiches Leben zu führen.

Aber eine Gesellschaft, die auf absolute Eigenverantwortung und Einzelkämpfertum setzt, vergisst, was der Wert von Gemeinschaft und Solidarität ist. Und sie verleugnet auch, dass wir gemeinsam eine Gesellschaft formen, in der die einen ohne Eigenverdienst mächtiger sind als andere. Eine Gesellschaft, in der Glück oder Unglück häufig mehr eine Frage von Geburtsprivilegien als von Willenskraft ist.

So kommt es denn auch, dass Ungleichheit – zwischen arm und reich, Mann und Frau, Ausländerin und Schweizer –  nicht als kollektives Problem wahrgenommen wird, sondern als individuelle Selbstverschuldung. Doch diese „Privatisierung“ von gesellschaftlichen Herausforderungen ist nicht naturgegeben, sondern politisch gewollt. Das Argument jeder kann, wenn er will, ist der Versuch der Bürgerlichen, ihre ungerechtfertigten Privilegien zu legitimieren und jede Kritik daran als Neid abzutun. Mit der einen Hand ihre Pfründe schützend, zeigen sie mit der anderen auf die Sündenböcke – die linken Gutmenschen, die Sozialschmarotzerin, der Ausländer. Und versuchen damit – leider sehr erfolgreich – zu vertuschen, dass die Dinge auf dieser Welt eben doch komplexer und vernetzter sind, als sie sich und den Menschen eingestehen wollen.

So sind die Steuergeschenke der einen der Sozialabbau der anderen. Wenn ein paar wenige von massiven Steuersenkungen profitieren, Millionen steuerfrei an ihre Nachkommen vererben und von den Zinsen ihres Vermögens leben können, dann müssen andere, wir, dafür gerade stehen. Wir bezahlen höhere Mieten, Krankenkassenprämien und Abgaben, müssen auf staatliche Leistungen verzichten und gleichzeitig hören, dass für eine bessere Gesundheitsversorgung, höhere Löhne und tiefere Mieten leider das Geld fehlt.

Auch die Konzerngewinne der einen sind die Arbeitslosigkeit der anderen. Wenn Unternehmen nur nach Profit streben und dafür vorsorglich Arbeitnehmende auf die Strasse stellen, dann stehen Menschen ohne Arbeit da. Menschen, die sich danach als faule Arbeitsscheue beschimpfen lassen und sich für ihr angeblicher Unwille, arbeiten zu gehen, schämen und rechtfertigen müssen. Arbeitslosigkeit wird sozusagen privatisiert  – mit der Folge, dass wir anstatt Armut und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, Arme und Arbeitslose bekämpfen.

Und zu guter letzt ist der Reichtum der einen das Elend der anderen. Wenn ganze Gesellschaften den Reichtum von anderen für sich beanspruchen, dann stehen zwingendermassen ganz viele mit nichts da. Niemand, und schon gar nicht die Bürgerlichen, die derart auf Eigenverantwortung schwören, kann ernsthaft verlangen, dass diese Menschen sich mit ihrem „Schicksal“ abfinden sollen. Es ist nicht einfach eine „Katastrophe“, die zurzeit am Mittelmeer passiert, liebe Genossinnen und Genossen. Menschen ertrinken und wir, Europa, verhalten uns, als ob es uns nicht betrifft. Dabei ist der Tod dieser Menschen verknüpft mit der Gesellschaft, in der wir leben. Es sind Grosskonzerne, die sich wegen attraktiven Steuern in der Schweiz ansiedeln und gleichzeitig in ressourcenreichen Ländern ganze Landstriche und  Generationen von Menschen ausbeuten. Es ist die Politik der Bürgerlichen, die nicht nur zulässt, dass für Milliardenprofite Menschenrechte mit den Füssen getreten werden, sondern die es zulässt, dass Menschen im Kampf um ein besseres Leben selbst den Tod in Kauf nehmen.

Die Geschichte vom Schmied oder der Schmiedin, die ganz losgelöst von allem ihr eigenes Glück schmiedet und selber schuld ist, wenn sie daran scheitert, ist falsch. Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, in der eine solche Geschichte quasi als Naturgesetz gelebt wird. Denn eine solche Geschichte ist Ausdruck einer Gesellschaft, die auf Angst, Ausgrenzung und Argwohn fusst anstatt auf dem, wofür wir gemeinsam einstehen: Freiheit, Gleichheit und Solidarität.

Gemeinsam kämpfen wir nicht nur gegen diese Geschichte der Bürgerlichen an und decken mit unserer Politik auf, dass der Reichtum des einen aus der Armut des anderen bedingt ist – und umgekehrt. Sondern wir kämpfen gleichzeitig auch für eine Gesellschaft, in der Bertolt Brechts Satz zur Ungleichheit seine Wahrheit verliert.  

Rede gehalten an der 1. Mai-Feier in Bülach (2015) 

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