Es war der 22. Juli 2011. Ich war auf der Fähre zwischen Newcastle und Amsterdam, als Cédric Wermuth mir eine kurze Nachricht schrieb: „Terrorangriff auf Jusos in Norwegen.“ Ein Rechtsextremist tötete damals 77 Menschen. Tausende trauerten um ihre Schwestern, Brüder, Töchter, Söhne, Väter, Mütter, Freundinnen, Freunde, Enkelkinder.
Es ist kein Einzelfall. Am 18. Januar 2019 riss eine Autobombe im syrischen Idlib fünfzehn Menschen in den Tod. Am 19. Februar 2020 ermordete ein Täter aus rassistischen Motiven zehn Menschen in Hanau. Vor wenigen Wochen schnitt ein islamistischer Attentäter in Nizza drei Personen die Kehle durch. Und jetzt Wien.
Utøya/Oslo, Kabul, Brüssel, Christchurch, Bagdad, Idlib, Nairobi, Paris, Berlin, Halle, Hanau, Nizza, Wien. Dreizehn Attentate, die stellvertretend für weltweit tausende Terroranschläge stehen, bei denen hunderttausende Menschen ums Leben gekommen sind. Millionen, die als Hinterbliebene trauern.
Wenn Rechtsextreme oder Islamist*innen Terroranschläge verüben, geht es ihnen im Grunde um das Gleiche. Es geht nicht um die Opfer, die sie zum Schweigen gebracht haben. Es geht ihnen darum, die Überlebenden, Hinterbliebenen und uns als demokratische Gesellschaft zum Schweigen zu bringen. Sie verbreiten Schrecken, um ihre autoritäre Gesinnung durchzusetzen, die auf Ungleichheit, Unterdrückung und Verachtung für Andersdenkende fusst. Sie machen sich zu Richter*innen über das Leben und die Freiheit anderer Menschen. Rechtsextreme Gewalt und islamistischer Terror zielen auf brutalste Weise auf das, wofür wir als Gesellschaft stehen. Es ist ein frontaler Angriff auf die Menschenwürde, Freiheit, demokratische Errungenschaften, auf den Rechtsstaat, auf die Gleichheit.
Als ich im Sommer 2011 in Amsterdam auf den Nachtzug wartete, war ich erschüttert und hatte Angst. Eine Woche später sollte das Juso-Sommerlager stattfinden, für das ich die Hauptleitung hatte. Wir mussten entscheiden: Sagen wir ab oder nicht? Wir entschieden uns für die Durchführung, in Absprache mit der Polizei. Wir liessen uns nicht zum Schweigen bringen.
Denn Schweigen bedeutet, die Opfer vergessen zu machen und sich der menschenverachtenden Ideologie zu unterwerfen. Dasselbe gilt, wenn die Taten und Opfer dazu missbraucht werden, Hass zu säen und die Gesellschaft zu spalten. Jeder Hass ist ein Sieg für Extremist*innen. Jede Spaltung ist ein Schritt hin zu einer Gesellschaft, welche die Terrorist*innen erreichen wollen.
Deshalb gibt es nur eine Antwort auf die Frage, was wir diesem Terror entgegensetzen.
Ich erinnere mich bis heute an die Reaktion des damaligen norwegischen Regierungschef Jens Stoltenberg: «Die Antwort auf Gewalt ist immer mehr Offenheit, mehr Demokratie.»
Ebenso reagierte auch die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern auf das Attentat in Christchurch gegen Musliminnen und Muslimen: „«Wir waren nicht ein Ziel, weil wir offen sind für Hass, Rassismus oder Extremismus. Wir wurden angegriffen, weil diese Dinge bei uns keinen Platz haben.»
Es ist die Antwort, die wir heute auf Nizza und Wien geben.
veröffentlicht im PS vom 6.11.20