Verkehrte Welt

Manchmal frage ich mich, wann genau es angefangen hat. Die dem Klischee nach für Besonnenheit bekannten Schweizerinnen und Schweizer entwickeln sich zu Meisterinnen und Meistern der Empörung. Über nichts scheint sich der gemeine Mann und die gemeine Frau mehr aufzuregen, als über tagtägliche, aus dem Zusammenhang gerissene Kleinigkeiten, die ihn oder sie via Zeitung oder anderswie erreichen.

Es wird getobt und geflucht darüber, dass Asylsuchende Iphones besitzen oder dass Sozialhilfebeziehende im Luxus leben würden. Zwar entbehren die Kleinigkeiten, für die der Wutbürger morgens die Gratiszeitung durchblättert, meist jeglicher Relevanz für das Zusammenleben. Ob der oder die Asylsuchende ein Iphone besitzt, hat keinen Einfluss auf den Alltag der Zornigen. Doch Geschichten dieser Art liefern Stoff für den Stammtisch. Gleichzeitig verkommt Relevantes zur Randnotiz. Zum Beispiel, dass die 62 reichsten Menschen auf der Welt gleich viel besitzen wie die ärmeren 3’600’000’000 Menschen zusammen. Mehr als ein Schulterzucken der Dauerempörten liegt nicht drin. Es fehlen ja auch klare Schuldige, auf die man mit dem Finger zeigen könnte.

Ihre Dauerempörung über Kleinigkeiten aber wirkt lähmend, denn die Politik reagiert auf solche Stimmungen: Aus Angst, einen Fehler zu machen, wird präventiv gehandelt. Lieber mal vorsorglich den Asylsuchenden das Geld und Handy wegnehmen, als nachher dafür gebrandmarkt zu werden. Wofür man gebrandmarkt wird? Das weiss keiner so genau. Denn den Anprangern fehlt die Verhältnismässigkeit.

«Verhältnismässig» bedeutet nicht nur, darüber zu diskutieren, was wir wirklich ändern können und sollen. Sondern auch, anderen das Gleiche zuzugestehen wie uns selber. Ich wünschte, die Schweizerinnen und Schweizer hätten ein bisschen mehr Gelassenheit gegenüber Kleinigkeiten und mögen ihre Empörung doch dagegen richten, wo sie hingehört: gegen die Grossen und Mächtigen. So unverhältnismässig scheint mir das nicht zu sein.

erschienen im Coucou Kulturmagazin Winterthur, März 2016

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