Das Spiel mit den Ängsten der Menschen

Ich sass kürzlich im Zug von Bern nach Winterthur. Im Zugabteil neben mir sass eine Mutter mit ihrer volljährigen Tochter und einer Freundin. Sie führten ein belangloses Gespräch, ich war in meine Arbeit vertieft. Doch bei der Einfahrt in Zürich horchte ich auf, die drei waren beim Thema Migration angelangt. Ich traute meinen Ohren nicht: Die Mutter forderte lapidar „diese Eritreer, Syrer und all das Pack sollen gehen“ – und die beiden jungen Frauen pflichteten ihr bei.

Ich begann darüber nachzudenken, wie es kommen konnte, dass zu viele von uns Menschen, die nichts haben, mit Abscheu begegnen. Und wie es kommen konnte, dass eine erwachsene Frau in aller Öffentlichkeit, im breitesten Berndeutsch und in einer Selbstverständlichkeit menschenverachtende Hetze zum Besten gibt.

Das Spiel mit den Ängsten der Menschen

Es ist die Folge einer neoliberalen Politik, die mit den Ängsten der Menschen spielt, die sie selber erzeugt hat. Seit Jahren überhäufen bürgerliche Parteien Privilegierte und Unternehmen mit Steuergeschenken, erzwingen danach Sparprogramme und lassen es zu, dass Arbeitgebende die Menschen gegeneinander ausspielen. Mit ihrer Politik der leeren Kassen, des Sozialabbaus und der Steuerprivilegien schaffen sie eine Gesellschaft, in der ein paar wenige sich immer mehr auf Kosten aller anderen bereichern können. Perfiderweise erklären sie gleichzeitig das Bonmot „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ zum Grundsatz unseres Zusammenlebens. Wer will, der schafft es. Wer es nicht schafft, der oder die hat zu wenig gewollt. Ungleichheit – zwischen arm und reich, Mann und Frau, Ausländerin und Schweizer – wird sozusagen privatisiert. Diese „privatisierte“ Ungleichheit ist der perfekte Nährboden für Abschottung, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit. Um die Pfründen der Privilegierten zu schützen und ihr undemokratisches Gebaren zu verstecken, brauchen die Bürgerlichen einen Sündenbock für das Volk. Dabei wählen sie immer die Schwächsten aus: Invalide, Arbeitslose, Ausländer/innen, Flüchtlinge. Sie geben ihnen die Schuld an steigenden Mieten, Sozialausgaben und Arbeitslosigkeit. Eine solche Politik schafft eine gefährliche Mischung aus Verlustangst, Selbstgefälligkeit und Missgunst. Das zeigt sich aktuell daran, wie über Millionen von Menschen gesprochen wird, sie sich gegenwärtig auf der Flucht befinden

Das Boot ist nicht voll

Die Diskussion über Flüchtlinge und Asylsuchende ist von einer absurden, zynischen „Das-Boot-ist-voll“-Rhetorik geprägt. Ungeachtet der Tatsache, dass Asylsuchende knapp 0.6 Prozent der gesamten Bevölkerung ausmachen, behaupten bürgerliche Parteien ernsthaft, die Schweiz werde von Flüchtlingen überschwemmt. Ein Hohn gegenüber Ländern, in denen Flüchtlinge ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Und ein Hohn gegenüber Menschen, die auf wirklich überfüllten Booten versuchen, dem Tod und der Perspektivenlosigkeit zu entkommen.

Weder die bürgerlichen Parteien noch die lauten Stammtischpolterer und Hetzkommentar-Schreiberinnen lassen sich angesichts erschütternder Bilder von erschöpften Kindern an Grenzzäunen und Schreckensnachrichten von gekenterten Booten davon abbringen, ihre fremdenfeindlichen Forderungen immer wieder zu wiederholen. Gleichzeitig verweigern sie, über die eigene Grenze zu blicken und die grösseren Zusammenhänge anzuerkennen. Denn für profitreiche Geschäfte (z.B. mit Erdöl oder dem Bankgeheimnis) sieht die Schweiz grosszügig darüber hinweg, mit welch eiserner Hand zahlreiche Diktatoren ihre Bevölkerung unterdrücken. Sind es denn nicht Schweizer Grosskonzerne, die sich wegen attraktiven Steuern in der Schweiz ansiedeln und gleichzeitig in ressourcenreichen Ländern ganze Generationen von Menschen ausbeuten? Sind es nicht Schweizer Waffen, die an Kriegsschauplätze auf die Zivilbevölkerung gerichtet werden? Und ist es nicht die aktuelle Mehrheits-Politik, die nicht nur zulässt, dass für Milliardenprofite Menschenrechte mit den Füssen getreten werden, sondern auch, dass Menschen im Kampf um ein besseres Leben selbst den Tod in Kauf nehmen?

Offene Grenzen für Geld, aber nicht für Menschen

Wir leben in einer absurden Welt: Für Geld, Waren und Waffen stehen alle Grenzen offen. Doch wenn die Menschen dem Geld und den Arbeitsmöglichkeiten folgen oder vor den Waffen fliehen, stehen sie vor verschlossenen Toren. Legal Fluchtwege bleiben ihnen verwehrt. Es werden Forderungen nach meterhohen Mauern, verstärkter Kontrolle und unattraktiven Asylzentren laut. Eine derartige Reaktion zeugt nicht nur von einer menschenverachtenden Migrationspolitik, sondern auch von keinerlei Verständnis für die Situation der Betroffenen. Es können noch so viele Grenzen dicht gemacht werden – die Menschen werden sich nicht davon abhalten lassen. Nicht, weil sie stur sind, sondern weil sie schlicht keine andere Wahl haben. Weil sich alle, ausnahmslos alle Menschen für das Leben und gegen den Tod entscheiden.

Eine Politik der Solidarität und Verteilungsgerechtigkeit

Grenzen und Mauern sind der Versuch der Privilegierten, ihre Pfründe zu schützen. Das mag ein paar wenigen nützen, doch wir als Gemeinschaft werden verlieren. Denn wenn wir Mauern bauen, uns abschotten und andere ausgrenzen, schliessen wir uns vor allem auch selber ein. Wir bauen eine Mauer gegen aussen – und vergessen dabei, dass auch ein Leben in Mauern kein lebenswertes Leben ist. Die grossartige Alt-SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss hat kürzlich in einem Blick-Interview einen bemerkenswerten Satz gesagt: „Indem die Politik versucht, unser Land immer unattraktiver für andere zu machen, wird die Schweiz auch immer weniger gemütlich für uns selbst.“ Wie recht sie damit doch hat. Wie die Schweiz mit Asylsuchenden umgeht, erzählt sehr viel über die eigene Stimmung im Land. Mit Mauern auf Millionen von Flüchtlingen zu antworten, zeugt von Unsicherheit und Angst.

Dieser Politik der Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit muss eine Politik der Solidarität und Gerechtigkeit entgegengestellt werden. So geht denn eben auch die Forderung nach einer menschenwürdigen Asylpolitik einher mit der Forderung nach mehr Verteilungsgerechtigkeit – auf der ganzen Welt wie in der Schweiz. So braucht es einerseits dringend legale Fluchtmöglichkeiten und offene Grenzen für Flüchtlinge, um das Sterben an den Grenzen zu Europa zu stoppen. Andererseits geht es auch darum, die Menschen in ihren Ländern in ihrem Kampf gegen Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen und in ihrem Engagement für mehr Demokratie und eine hoffnungsvolle, selbstbestimmte Zukunft zu unterstützen. Das bedeutet auch ein Verbot von Kriegsmaterialexport und die Sanktionierung von Unternehmen, die Menschenrechte verletzen. Das gleiche gilt auch für die Schweiz: Es braucht nicht nur die Aufnahme von mehr Flüchtlingen, die Wiedereinführung des Botschaftsasyl und Arbeitsmöglichkeiten für Asylsuchende. Gleichzeitig muss auch dem Nährboden für Angst und Fremdenfeindlichkeit die Grundlage entzogen werden, indem wir Verteilungsgerechtigkeit einfordern.

Sehr viele Menschen engagieren sich im Kleinen und Grossen, gemeinsam mit Flüchtlingen, im Alltag, in ihrer Gemeinde, in Leserbriefseiten, in ihrem Beruf und in der Politik für eine offene, solidarische Gemeinschaft und für eine menschenwürdige Asylpolitik. Diese Menschen machen Mut. Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam eine Schweiz schaffen können, die solidarisch, grosszügig und hoffnungsvoll ist. Eine Schweiz, in der es niemand für nötig erachtet, Menschen zu diskriminieren und zu verachten, die nichts anderes wollen als wir auch: frei, selbstbestimmt und ohne Angst leben zu können.

erschienen in Frauenstimmen – Zeitschrift Frauen für den Frieden 

 

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