Gleichstellung trifft unser Leben im Kern.

Liebe Mitkämpferinnen, liebe Kolleginnen, liebe Freundinnen

Was wir in den letzten Monaten, Wochen und heute erlebt haben, bewegt mich sehr. Egal wohin wir schauen: überall Frauen. Starke, mutige, entschlossene, solidarische Frauen.

Immer wieder müssen wir uns anhören, dass Gleichstellung längst erreicht sei. Wir können alles sein, was wir wollen. Und wenn wir das nicht schaffen, dann haben wir halt zu wenig gewollt, uns zu wenig angestrengt, zu wenig gefordert.

Nein, liebe Streikerinnen, Gleichstellung ist nicht ein persönlicher Kampf, den jede und jeder von uns in den eigenen vier Wänden oder am Arbeitsplatz ausfechten muss. Gleichstellung ist nicht Privatsache.

Wir müssen uns nicht „besser verkaufen“ und „besser verhandeln“, wenn wir gleichen Lohn wollen. Es ist unser Recht. Wer uns Frauen für gleichwertige Arbeit nicht den gleichen Lohn gibt, bricht das Gesetz.

Wir müssen auch nicht mehr Spass verstehen, wenn wir belästigt werden. Respektloses, verletzendes, entwürdigendes Verhalten gehört sich nicht und ist nie unsere Schuld.

Es ist nicht einfach unser Problem, wenn wir immer wieder an unsere Grenzen stossen, weil es so anstrengend ist, Job und Familie zu vereinbaren. Die fehlenden Kitaplätze, die fehlende Elternzeit, die fehlende Arbeitszeitreduktion sind verantwortlich für diesen Stress.

Und wir sind auch nicht selber Schuld, wenn wir nicht gehört werden, wenn wir komische Blicke spüren, wenn wir belästigt, missbraucht, geschlagen werden.

Kennt ihr das Gefühl, sich immer zuerst beweisen zu müssen, um als vollwertig genommen zu werden? Frauen müssen brillant sein, um Bundesrätin sein zu können. Eine durchschnittliche Bundesrätin hat es noch nie gegeben, durchschnittliche Bundesräte gab und gibt es so einige. Oder ein anderes Beispiel: Die Frauenfussball-Nati muss sich für die Weltmeisterschaft qualifizieren, damit die Spiele bei SRF ausgestrahlt würden. Bei den Männer gilt das nicht, da wird jedes einzelne Spiel gezeigt.

Liebe Mitkämpferinnen, fehlende Gleichstellung ist kein Naturgesetz, kein persönliches Problem und kein Nebenschauplatz. Es trifft unser aller Leben im Kern.

Und es ist unser gemeinsamer, politischer Kampf, den wir nur gemeinsam gewinnen können.

Noch für meine Urgrossmutter war es unmöglich, im Ratsaal zu politisieren. Meine Grossmutter war vom Einverständnis ihres Mannes abhängig, damit sie arbeiten durfte. Und erst zur Zeit, als meine Eltern sich kennenlernten, wurde erzwungener Sex in der Ehe als Vergewaltigung strafbar. Ich bin so vielen Frauen dankbar. Es waren mutige Frauen und Männer, die für das Frauenstimmrecht und für gleiche Rechte auf die Strasse gingen. Viele von ihnen haben dafür teuer bezahlt, sie wurden aus ihren konservativen Familien ausgeschlossen oder wurden verspottet und geächtet, ja sogar eingesperrt. Und doch: Sie haben nicht locker gelassen. Dank ihrem Mut, dank ihrer Hartnäckigkeit, dank ihren Träumen können wir heute auf dem bauen, wofür sie aufgestanden sind. 

Ja, wir wollen mehr. Wir werden erst dann Ruhe geben, wenn Frauen nicht mehr 1000 Franken weniger pro Monat verdienen, nur weil sie Frauen sind. Wir werden erst dann zufrieden sein, wenn es selbstverständlich geworden ist, dass Männer und Frauen Kinder betreuen und ältere Angehörige pflegen. Wir werden erst dann schweigen, wenn Frauen nicht mehr Angst haben müssen, zuhause verprügelt oder im Ausgang begrapscht zu werden. Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der es nicht mehr wert ist, Aktien an der Börse zu verkaufen als Kranke zu pflegen und Kinder zu betreuen. Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der Frauen nicht überdurchschnittlich von Armut betroffen sind, sondern es keine Armut mehr gibt. Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der Frauen nicht im Rentenalter bitter dafür zahlen müssen, zu viel unbezahlte und zu wenig bezahlte Arbeit geleistet zu haben. Und wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der unsere Töchter und Söhne ganz selbstverständlich dieselben Freiheiten haben.

Es gibt viele Frauen, die heute hier sein wollen, aber nicht können. Frauen, die in so prekären Situationen arbeiten, dass sie nicht streiken können, weil ihre Existenz auf dem Spiel steht. Migrantinnen aus Polen oder Ungarn zum Beispiel, die für drei Monate in die Schweiz kommen und hier Bettlägerige pflegen. 24 Stunden, sieben Tage pro Woche, pausenlos und für ein Butterbrot. Sans-Papiers-Frauen, die Wohnung um Wohnung putzen und trotzdem nicht anerkannt sind. Oder alleinerziehende Mütter, die Schicht arbeiten und alles dafür tun, damit es ihre Kinder einmal besser haben. Für all diese Frauen, die heute nicht hier sein können, streiken wir heute mit. 

Liebe Frauen, letzte Woche hat mich eine Schulklasse im Bundeshaus besucht. Sie stellten viele Fragen zum Frauenstreik. Eine 15-jährige Schülerin fragte mich: Weshalb werden Männer und Frauen nicht gleich behandelt? Wir sind doch alles Menschen.

Recht hat sie, diese fünfzehnjährige Schülerin.

Wir sind heute hier, weil wir überzeugt sind, dass unsere Zukunft so viel besser, gerechter, solidarischer, vielfältiger, respektvoller, würdevoller, freier sein kann.

Rede gehalten am Frauenstreik 2019 in Winterthur, 14. Juni 2019, Kirchplatz

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