Kleine und grosse Fische

Kürzlich war ich an einer Wahlkampfveranstaltung, die eine Gemeinderatskandidatin für ihren Freundeskreis organisiert hatte. Verkäufer, Hauswarte, Spitalangestellte – Menschen mitten im Leben. Es waren keine SP-Mitglieder, aber den sozialen Werten zugetan und von der SVP angewidert. Nach meinem Plädoyer für bezahlbare Wohnungen, Prämienverbilligungen und gute Schulen, fragte ich, wo ihnen denn der Schuh drücke. Dann kamen die Antworten: Carlos und seine kostspieligen Massnahmen. Sozialhilfebeziehende, die angeblich Porsche fahren und sich eine Winterjacke für 700 Franken gekauft hätten. Das habe zumindest die Frau des Schwagers gesagt, die eine vom Sozialamt kenne. Dabei wären andere Themen auf dem Tisch gelegen: Nur drei Tage zuvor wurde dank den Paradise Papers erneut vor Augen geführt, wie Superreiche und Grosskonzerne die Menschen an der Nase herumführen mit ihrer Steuerhinterziehung. Doch darüber fiel kein Wort. Kein einziges.

Als ich dann mit dem Bus nach Hause fuhr, fragte ich mich, wie das sein kann: Dass sich Menschen masslos über Einzelfälle wie Carlos oder Betrügereien von Sozialhilfebeziehende empören können. Und die wirklich fetten Fische weiterhin ungestört ihre Runden drehen können. Ist dieser masslose Reichtum, diese Milliarden, die da hinterzogen werden, so weit weg von der Lebensrealität der Menschen, dass sie sich gar nicht betrogen fühlen? Sich hingegen die teure Jacke, die sie sich nicht leisten können, der Sozialhilfebezüger aber angeblich bezahlt bekommt, wie eine Faust ins Gesicht anfühlen muss?

Keine Frage, Betrug ist Betrug und gehört bestraft – das gilt auch für Sozialhilfegelder. Aber die Empörung darüber steht in keinem Verhältnis zur Deliktsumme (und zur Anzahl der Deliquenten). Im Gegensatz dazu verkommt Relevantes zur Randnotiz. Zum Beispiel, dass die 300 Reichsten im letzten Jahr ihr Vermögen um 60 Milliarden steigern konnten – das ist nahezu so viel, wie der Bund pro Jahr für sieben Millionen Menschen ausgibt. Oder dass jährlich 5-10 Milliarden Franken Steuern hinterzogen werden. Zum Vergleich: Die Gesamtausgaben für Sozialhilfe auf Stufe Bund, Kanton und Gemeinde betragen zusammen rund 2.6 Milliarden Franken pro Jahr.

Die unverhältnismässige Empörung gegenüber den kleinen Fischen zeigt ihre Wirkung, denn die Politik reagiert auf solche Stimmungen und schafft sie gleichzeitig auch selber: Aus Angst, einen Fehler zu machen, wird präventiv gehandelt. Lieber mal vorsorglich Sozialhilfebeziehenden misstrauen und Gelder kürzen. Lieber bei einer an sich sinnvollen Erziehungsmassnahme zurückhaltend sein, als sich dem Vorwurf aussetzen, Kuscheljustiz zu betreiben. Das ist fatal. Ich wünschte, die Empörung würde sich mehr gegen die richten, die mit ihrem Gebaren die kleinen Leute hintergehen und gegeneinander ausspielen: Die Grossen und Mächtigen in diesem Land.

Artikel erschienen im PS vom 1. Dezember 2017

 

 

 

 

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