Raub an der Gesellschaft

Kürzlich las ich einen wirklich guten Artikel im Tagesanzeiger von Constantin Seibt. „Ein Herz für Flüchtlinge. Für Steuerflüchtlinge“ war der Titel. Darin weist der Tagi-Journalist überzeugend nach, wie die bürgerlichen Parteien grosszügige Steueramnestien für Steuerbetrügerinnen und -betrüger gewähren und es entgegen der Haltung des Bundesrates nicht einmal für nötig erachten, das Ausmass der Steuerhinterziehung zu analysieren. Ein entsprechender Vorstoss wurde im Parlament nicht überwiesen.

Stattdessen wollen sie in ihrer Steueramnestie noch weiter gehen: Wer hinterzogene Vermögen offenlegt, soll nur für maximal fünf Jahre Nachsteuern plus Zinsen nachzahlen. Schliesslich könne sich der Staat so über grosszügige Mehreinnahmen erfreuen – wie wenn die ja nicht sowieso bezahlt werden müssten. Die Forderung ist typisch: Jahr für Jahr lehnen sie die linken Anträge auf Stellenaufstockung im Steueramt ab und fordern stattdessen Nachsicht mit denen ein, die es mit dem Steuerzahlen nicht so ernst nehmen. Steuerhinterziehung wird so nicht nur zum Kavaliersdelikt, sondern ist auch das weitverbreiteste Wirtschaftsverbrechen in der Schweiz. Und zwar eines, das insbesondere Gutbetuchten entgegenkommt – denn nur beim Lohneinkommen lässt sich nicht schummeln. Seibt nennt deshalb Steuerhinterziehung nicht zu Unrecht als „eines der wirksamsten Mittel der Umverteilung von unten nach oben“.

Dass vielen nicht vertraut werden kann, ist offensichtlich: Verlässliche Zahlen gibt es zwar keine, aber vorsichtige Schätzungen gehen von 5-10 Milliarden Franken aus, um die der Staat und damit die ehrlichen Steuerzahlenden jährlich betrogen werden. Zum Vergleich: Die Gesamtausgaben für die Sozialhilfe auf Stufen Bund, Kantone und Gemeinden betragen zusammen rund 2.3 Milliarden Franken pro Jahr. Auch die Steueramnestie, die seit 2010 läuft und mit der eine einmalige straflose Selbstanzeige möglich ist, spricht eine ähnliche Sprache: 2014 wurden im Kanton Zürich 120 Millionen Franken Nachsteuern und Bussen infolge Steuerhinterziehung bezahlt. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher liegen. Es wäre angesichts der unsäglichen „Spar“-Diskussion in Winterthur interessant zu wissen, wieviel Geld der Stadt durch Steuerhinterziehung jährlich entgeht. Klar ist, dass sich mit einer strengeren Verfolgung von Steuerbetrug so manches Finanzloch schmerzfrei stopfen liess.

Diejeningen juristischen und natürlichen Personen, die ihre Steuern hinterziehen, zerstören nicht nur das Prinzip der Solidarität, sondern zwingen die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die Mindereinnahmen durch höhere Steuern oder Leistungsabbau zu tragen. Welche Folgen das hat, erleben wir zurzeit in Winterthur hautnah mit. Die Anständigen sind die Dummen. Sie zahlen die Kosten, die für eine funktionierende, demokratische Gesellschaft nötig sind. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Es ist Raub an der Gesellschaft und an der Solidarität.

erschienen in der Wandzeitung am 14. Oktober 2015. 

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