Recht zu fliehen – Recht zu bleiben

Weltweit sind über 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Ein kleiner Teil von ihnen kommt nach Europa, ein noch kleinerer in die Schweiz. Und dennoch scheint kein anderes Thema mehr zu polarisieren. Meinen wir es mit einer umfassenden Asylpolitik ernst, brauchen wir Antworten auf drei Fragen: Was können wir erstens dazu beitragen, dass Menschen auf der Flucht zu ihrem Recht kommen? Wie begegnen wir zweitens denjenigen, die bei uns Schutz suchen? Und was können wir drittens tun, dass Menschen nicht nur ein „Recht aus der Heimat zu fliehen“, sondern auch ein „Recht in der Heimat zu bleiben“ haben? Nachfolgend versuche ich, Antworten darauf zu skizzieren – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Das Recht zu fliehen

Für Flüchtende wird Europa immer mehr unerreichbar. Der Fluchtweg über die Türkei schloss die EU in einem fragwürdigen Deal mit Erdogan, das Mittelmeer wird mehr und mehr abgeriegelt. Eine wichtige Rolle für diese Abschottung spielt die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex, an der sich auch die Schweiz beteiligt. Mit dem verstärkten Einsatz von Frontex auf afrikanischem Boden und einer fragwürdigen Kooperation mit der libyschen Küstenwache verschiebt die EU ihren Grenzzaun immer mehr nach Afrika. Das alles wird als gute Tat des nördlichen Nachbarn verkauft: Wer ist schon dagegen, dass Menschen abgehalten werden, den Tod in den Fluten zu finden. Dass sie in Libyen in Lagern feststecken, die – will man den Berichten von Medecin sans frontières Glauben schenken – die Hölle auf Erde sind, gerät dabei aus dem Blickfeld.

Die Abschottungspolitik offenbart eines: Europa versagt in der Aufgabe, Menschen auf der Flucht als das zu behandeln, was sie in erster Linie sind: Menschen. Wenn Asylsuchende nicht im Mittelmeer ertrinken sollen, dann muss Europa sichere Fluchtwege bieten, würdige Asylverfahren gewährleisten und gemeinsam Verantwortung übernehmen. Ansätze dafür gibt es, auch wenn nur zaghaft. So sollen mit dem sogenannten Relocation-Programm Flüchtende solidarischer auf die europäischen Staaten verteilt und die besonders exponierten Länder Griechenland und Italien entlastet werden. Auch die Schweiz beteiligt sich mit einem Kontingent von aktuell 1500 Aufnahmen daran. Gleichzeitig sollen mit einem Resettlement-Programm besonders verletzliche Flüchtlinge direkt aus Krisenregionen in die Schweiz kommen. Das ist positiv, doch es könnte noch rascher und besser laufen. So habe ich im Sommer 2016 in Griechenland eine syrische Familie kennengelernt, die erst vor einem Monat endlich in die Schweiz kommen konnte. Das dauert zu lange.

Ein weniger positives Bild gibt die Schweiz in punkto Dublin-Abkommen ab. Dieses sieht vor, dass eine asylsuchende Person nur im Erstland Asyl beantragen kann. Die Schweiz macht rege davon Gebrauch, Asylsuchende wieder zurückzuschicken, was immer wieder Anlass zur Kritik gibt. Denn sie könnte auch anders: Sie hätte mit dem Selbsteintrittsrecht die Möglichkeit, auf ein Asylgesuch einzutreten, ungeachtet dessen, dass jemand bereits in einem anderen Land registriert wurde. Hier könnte die Schweiz unkompliziert Verantwortung übernehmen. 

Das Recht auf Zukunft

Aber auch wer es bis hierhin geschafft hat, hat es (noch) nicht geschafft. Die Zeit des Wartens geht in der Schweiz weiter, zum Teil monate- oder gar jahrelang. Mit der Asylgesetzrevision, die im Juni 2016 angenommen wurde, soll diese Wartezeit verkürzt werden, indem ab 2019 beschleunigte Asylverfahren in sogenannten Bundesasylzentren durchgeführt und den Asylsuchenden vom ersten Moment an eine Rechtsberatung an die Seite gestellt werden. Dabei ist es wichtig, dass trotz kurzen Fristen auf die individuellen Fluchtgeschichten eingegangen wird und vor allem auch den besonderen Bedürfnissen von unbegleiteten Minderjährigen, alleinstehenden Frauen und Familien Rechnung getragen wird.

Doch selbst ein Asylentscheid befreit viele nicht vom Leben im „Warteraum“. Viele, vor allem Kriegsflüchtlinge, erhalten den Status „F, vorläufig aufgenommen“. Sie müssen zwar nicht zurück in ihr Herkunftsland, aber sie erhalten kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht als Flüchtlinge. Der Vorläufigkeit zum Trotz bleiben aber die meisten von ihnen dauerhaft in der Schweiz. Zurzeit ist eine Überprüfung dieses unbefriedigenden Status im Parlament hängig – der Ausgang ist ungewiss. Doch eines ist sicher: Die Betroffenen von der beruflichen, gesellschaftlichen und sprachlichen Teilhabe auszuschliessen, ist nicht nur ihnen gegenüber unwürdig, sondern auch gegenüber der Gesellschaft ziemlich unklug und kurzsichtig. Dabei wäre es so einfach: Wir sollten Flüchtende so behandeln, wie wir selber behandelt werden möchten, wären wir in ihrer Situation. Als Menschen mit Wünschen, Zukunftsplänen und Würde. Und dazu gehört eine Wohnung ebenso wie Zugang zur Arbeit und Bildung. Ich treffe auf sehr viele Menschen, die täglich wertvolle (Freiwilligen-)Arbeit leisten für das, was die Politik ihnen verweigert oder erschwert. Solche Geschichten machen Mut.

Das Recht zu bleiben

Wird über Asylpolitik gesprochen, fällt immer wieder der Ausdruck „das Recht zu fliehen“. Ich bin der Meinung, wir sollten konsequenter „das Recht zu bleiben“ in den Mittelpunkt der Migrationsdebatte stellen. Damit meine ich, vermehrt über Fluchtursachen zu sprechen (das wäre auch eine zentrale Antwort auf die Diffamierung von „Wirtschaftsflüchtlingen“): Was bringt die Menschen dazu, aus ihrer Heimat zu fliehen? Und welche Rolle spielt die Schweiz?

Eine wesentliche, denn sie trägt mit ihrer Politik massgeblich zur weltweiten Ungleichheit und zu Konflikten bei. Die Schweiz verdient mehr Geld mit Kriegsmaterialexporten als sie für Flüchtlinge ausgibt. Zwischen 2011 und 2014 hat sie rund 1.5mal mehr aus Waffenverkäufen in die Nahostregion verdient, als sie für 13’000 syrische Flüchtlinge ausgegeben hat. Viele grosse Schweizer Konzerne beuten Rohstoffe aus, während sie Umweltstandards und Menschenrechte mit den Füssen treten. Ganz zu schweigen von der Steuerflucht, die Länder des Südens um Milliarden von Steuereinnahmen bringt und Geld für die wirtschaftliche Entwicklung entzieht. Dies alles zwingt die Menschen zur Flucht vor Waffengewalt oder Perspektivenlosigkeit. Anstatt Flüchtende zu bekämpfen, sollten wir also damit beginnen, Fluchtursachen anzugehen. Wir können aufhören, Kriegsmaterial zu exportieren, keine Steuerflucht mehr zulassen und international tätige Schweizer Konzerne dazu verpflichten, Menschenrechte einzuhalten und nicht mit Regimes zu kooperieren (wie dies die Konzernverantwortungsinitiative fordert).

Auf den Punkt gebracht: Wir sollen das weltweit einfordern, was wir auch für die Schweiz einfordern: Die gerechtere Verteilung des Reichtums. Denn geschlossene Grenzen als Antwort auf Millionen von Menschen auf der Flucht ist die zynischste Kapitulation vor den Folgen des globalisierten Kapitalismus, der auch Krieg als gewinnbringendes Geschäftsfeld sieht.

Text erschienen im November 2017 im Radiisli, Zeitschrift der SP Weinland

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