Sozialhilfebezügerin für fünfzehn Minuten

Anfangs Mai war ich kurze Zeit Sozialhilfebezügerin. Genau gesagt: Eine Viertelstunde lang.  

Das Online-Magazin Republik hatte im Rahmen der Diskussion um Kürzungen der Sozialhilfe einen Online-Test lanciert. Spiel des Lebens hiess es. Und es ging so: Feld 1 stand für den Monatsanfang, an dem Geld von der Sozialhilfe kam. Es ging weiter mit Feld 2, da war die Handyrechnung fällig. Am Tag drei war Grosseinkauf. Und so weiter bis Feld 30. Immer wieder kamen Felder, an dem man sich entscheiden musste: Kinobesuch ja oder nein?

Ich machte den Selbstversuch. Und scheiterte. Schon im zweiten Monat war ich pleite und das Spiel zu Ende. Beim fünften Anlauf schaffte ich es dann, sechs Monate lang durchzuhalten. Mein Sohn musste dafür aber auf sein Geburtstagsfest verzichten, meine Tochter konnte nicht mit der Freundin in die Ferien fahren, ich verzichtete aufs Tanzen und musste weiterhin meine falsch korrigierte Sonnenbrille tragen. Es war ein beklemmendes Gefühl. Fünfzehn Minuten lang Stress, Unbehagen. Ich fühlte mich schlecht gegenüber meinen fiktiven Kindern.

Für hunderttausende Menschen ist das kein Spiel. Sondern Realität. In mehreren Kantonen wollen die rechten Parteien den Alltag für Sozialhilfebezüger*innen nun noch erschweren. Der Anfang machte der Kanton Bern. SVP, FDP, BDP und EDU* wollten das Geld für Kleidung, Essen, Telefon etc. um acht Prozent kürzen. Dabei ist der Grundbedarf mit 977 Franken (in Bern) für eine alleinstehende Person bereits heute schon knapp bemessen. Diverse Studien sagen, dass es mehr bräuchte. Wenn Betroffene jeden Franken zweimal umdrehen müssen, verschlechtere das die Chancen auf Integration. Oder anders gesagt: Wer dauernd knapp bei Atem ist, lebt in ständiger Angst vor dem Ersticken. Da bleibt wenig Zeit für anderes. Wer hingegen etwas Luft hat, hat den Kopf frei für die Jobsuche oder den Deutschkurs. Eigentlich logisch. Nicht so für die rechten Parteien. Sie sagen, Arbeit müsse sich lohnen und es bräuchte mehr „Anreize“, arbeiten zu gehen. Diese Haltung ist doppelt frech: Erstens arbeiten viele, die Sozialhilfe beziehen. Sie verdienen aber zu wenig, um davon leben zu können. Zweitens haben Erwerbstätige mit prekären Jobs nichts davon, wenn es Erwerbslosen noch schlechter geht. Es gibt Wege, die Situation von Menschen mit tiefen Löhnen zu verbessern: Den Steuerfreibetrag auf 20’000 Franken raufsetzen. Anständige Mindestlöhne zahlen oder mehr Prämienverbilligung. Nur: Die besagten Parteien wollen von all dem nichts wissen. Sie spielen lieber Benachteiligte gegeneinander aus. Zum Glück hat das in Bern nicht geklappt: Die Stimmberechtigten lehnten die Sozialhilfekürzung ab.

Ich hatte fünfzehn Minuten lang einen Eindruck davon, was es heissen könnte, permanent in Unsicherheit zu leben, Druck zu spüren, Belastung aushalten zu müssen. Dass es privilegierte Menschen gibt, die anderen ein solches Leben zumuten wollen, finde ich beschämend.

Artikel erschienen am 31. Mai im PS.

*In der Printversion im PS habe ich fälschlicherweise geschrieben, dass auch CVP und GLP diesen Vorschlag mitunterstützt haben (und habe dafür die EDU unterschlagen). Ich hatte das falsch im Kopf und nicht besser recherchiert. Dafür möchte ich mich entschuldigen und ich werde um ein Korrigendum bitten.

Spenden

Wir brauchen keine Millionen, dafür aber engagierte Menschen. Und doch: Ganz ohne Geld geht unsere politische Arbeit nicht. Hilfst du mit einer Spende mit?

Mitmachen

Überlassen wir unsere Zukunft nicht den Mächtigen.