Anfangs dieser Woche wurden wir in dieser Zeitung in einem Kommentar in die Nähe von linksnationalistischen Bewegungen gerückt. Dies, weil wir Kritik an der aktuellen Politik der europäischen Eliten in der EU und den nationalen Regierungen üben. Das Gegenteil ist der Fall: Wir sind frustriert über die Politik der europäischen Eliten, gerade weil wir überzeugte Europäer*innen sind.
Die EU hat unzweifelhafte Erfolge von historischer Bedeutung vorzuweisen. Allen voran die einzigartige Dauer des Friedens zwischen ihren Mitgliedsländern seit 1945 (wobei die Bilanz der kriegerischen Aktivitäten ihrer Mitgliedsländer ausserhalb der Union sehr viel negativer ausfällt). Zu diesem Frieden gehört auch die Personenfreizügigkeit von Sevilla bis Bukarest. Das ist vielleicht die Trennlinie zwischen kritisch-proeuropäischen und linksnationalistischen Positionen: Die Personenfreizügigkeit gilt es, trotz all‘ ihrer Schwierigkeiten, als Freiheitsgewinn bedingungslos gegen Angriffe von links und rechts zu verteidigen. Wir meinen, die Linke muss den Wettbewerb zwischen Nationalstaaten überwinden. Links ist, wenn uns das Schicksal einer Schwedischen Krankenpflegerin und eines Basler Chemiearbeiters gleichwertig ist.
Jahrzehntelang war die Union in vielen Fragen weltweit führend. Zum Beispiel bei der Gleichstellung der Geschlechter, dem Schutz der Konsument*innen oder in Umweltfragen. Von dieser Dynamik hat sie viel eingebüsst. Das Management der Finanzkrise nach 2007 ist ein Totalversagen der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und den nationalen Regierungen. In Krisenländern wie Griechenland hebelten sie die Demokratie zugunsten der Banken und Finanzmärkte aus. Anstatt für ihre Bürgerinnen und Bürger da zu sein, retteten sie die Finanzinstitute und die Millionensaläre der Topmanager. Diese Rechnung zahlen die Menschen gestern, heute und auch morgen noch. Nach wie vor sind in Griechenland 40 Prozent der Jugendlichen arbeitslos. Die EU, ihre Regierungen, die Kommission (und der IWF) wurden in Spanien, Italien, Irland, Griechenland und anderswo zum Hauptgegner der Menschen.
Nicht besser fällt die Bilanz rund um die sogenannte „Flüchtlingskrise“ aus. Eine Krise, die keine Krise der Flüchtlinge, sondern eine Krise der Wertegemeinschaft ist. 35’000 Menschen sind in den vergangenen 25 Jahren im Mittelmeer elendiglich verreckt. Wer die erbärmlichen Zustände in den Flüchtlingslagern mit eigenen Augen gesehen hat, wird die Bilder nicht mehr vergessen. Doch anstatt sich sangesichts der rekordhohen Zahl von Menschen auf der Flucht endlich die Frage nach den Fluchtursachen und dem Zusammenhang mit unserer Wirtschafts- und Steuerpolitik zu stellen, verweigern die europäische Länder, inklusive der Schweiz, Verantwortung zu übernehmen. Sie rüsten ihre Grenzen auf (oder verlagern sie gar nach Afrika), kooperieren mit Verbrecherbanden in Libyen und schliessen Deals mit Erdogan.
Die Deregulierung der Finanzmärkte, die Liberalisierung und Privatisierung von Infrastruktur und die Beschneidung der Demokratie haben über Jahre hinweg die soziale Ungleichheit befeuert. Wer Angst hat, alles zu verlieren, ist empfänglich für eine Sündenbockpolitik. Heute sitzen die rechtsnationalistischen Scharfmacher nicht mehr nur an den Stammtischen, sondern als Regierungschefs und Innenminister an den Schalthebel der Macht. Von der kurzen Hoffnung nach 2008 auf ein Europa der Kooperation sind wir zurück gekehrt zu einem Europa, das in erster Linie die Konkurrenz der nationalen Egoismen organisiert.
Kurzum: Die Gegner*innen Europas sind nicht jene, die diese Politik kritisieren, um ein solidarischeres Europa überhaupt zu ermöglichen. Sondern jene neue Rechte, die alles einreissen will, was die Menschen in jahrhundertelangen Kämpfen gegen die Interessen von Herrschenden durchgesetzt haben. Und jene, die gegen die Bedürfnisse der Bevölkerung den neoliberalen Kurs der Profitmaximierung blind vorantreiben. Die Linke sollte sich nicht vor die Alternative neoliberales Europa oder keines stellen lassen, beides sind Irrwege. Unsere Aufgabe ist vielmehr das Herkulesprojekt, neue Mehrheiten für ein soziales, demokratisches und ökologisches Europa der Menschen zu finden. Angesichts der wachsenden Präsenz rechtsextremer Parteien in den Kernländern Europas ist nicht auszumalen, was es bedeutet, wenn uns das nicht gelingt.
Mattea Meyer, Nationalrätin und Cédric Wermuth, Nationalrat
Dieser Artikel erscheint am 31. August 2018 in der Nordwestschweiz/Aargauer Zeitung.