Wir sind die Guten. Wir sind ein Land mit einem fleissigen Volk und einem gesunden Konkurrenzdenken. Bei uns wird Chancengleichheit vom ersten Moment an gross geschrieben, deshalb braucht es weder Frühförderung noch Solidarität. Denn jeder und jede kann, wenn er oder sie will. Bei uns sind Frauen gleichgestellt – sie dürfen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tragen und sich im Blick nackt ausziehen anstatt sich verschleiern zu müssen. Wir wissen dank unserer guten Bildung über alles Bescheid. Deshalb können wir auch beurteilen, ob jemand wirklich an Leib und Leben bedroht ist oder nur so tut als ob. Schliesslich waren wir selber, oder unser Nachbar und unsere Arbeitskollegin, schon in einem „Drittwelt-Land“ in den Ferien und haben die Menschen dort lachen und tanzen gesehen.
Wenn wir die Guten sind, dann muss es auch die Bösen geben. Also all die, die unseren Wohlstand und unsere Werte bedrohen. Das sind die Linken, die den Reichtum mit ihrem Gleichheitsgerede zunichte machen wollen. Das sind die faulen Arbeitslosen, die den arbeitsamen Werktätigen auf der Tasche liegen. Das sind die schwarzen Männer, vor denen wir unsere Frauen beschützen müssen. Und das sind die Wirtschaftsflüchtlinge, die nur an unserem Wohlstand saugen wollen.
Diese Vorstellung von „wir, die Guten“ und sie, „die Bösen“, macht uns doppelt blind. Blind gegenüber der Tatsache, dass wir einfach nur Glück gehabt haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort auf die Welt gekommen zu sein. Aber, und das wiegt noch schwerer, auch blind gegenüber der Tatsache, dass wir so erhaben nicht sind. Dass des einen Glück eng verknüpft ist mit des anderen Leid. Wie sagte Bertold Brecht so treffend vor über siebzig Jahren: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Das trifft auch auf heute zu. Die Steuergeschenke der einen sind der Sozialabbau der anderen. Denn wenn ein paar von Steuersenkungen profitieren, dann müssen andere dafür auf Leistungen verzichten oder höhere Steuern zahlen. Oder die Konzerngewinne der einen sind die Arbeitslosigkeit der anderen, wie das aktuelle Beispiel von Sulzer zeigt. Denn wenn Unternehmen nur nach Profit streben und dafür Arbeitnehmende auf die Strasse stellen, dann stehen Menschen ohne Arbeit da. Und wenn ganze Gesellschaften den Reichtum von anderen für sich beanspruchen, dann haben zwingendermassen ganz viele nichts und müssen ihre Heimat verlassen.
Die Geschichte von den Guten und den Bösen ist deshalb so gefährlich, weil sie zufälliges Geburtsglück mit einer desaströsen Abbaupolitik und dem Grundsatz paart, dass jeder und jede für sein respektive ihr Glück selber verantwortlich sei. Das ergibt eine explosive Mischung aus Arroganz und Verlustangst, die wir heute in Form von Fremdenfeindlichkeit spüren.
Wir sollten wagen, unsere Augen zu benützen.
Text erschienen am 26. März 2016 auf Wandzeitung.ch