Wir sind die Guten

Die „Wertedebatte“, die seit den Übergriffen an Neujahr in Köln und anderen Städten landauf landab proklamiert wird, ist schnell erzählt: Wir sind die Guten, die anderen die Bösen. „Bei uns sind Frauen gleichgestellt“, wird stolz und mutig an die Adresse des „schwarzen Mannes“ geschrien. Am lautesten brüllen dabei diejenigen, die sich noch vor zwanzig Jahren dafür ausgesprochen haben, dass Vergewaltigung in der Ehe straffrei bleibt, oder sich noch vor wenigen Monaten über Opfer von K.O.-Tropfen lustig gemacht haben. Es sind die gleichen, die sonst sexuelle Belästigung und schlüprige Sprüche als „Kompliment“ verstanden haben wollen und Frauen, die sich dagegen wehren, als Emanzen beleidigen. Das Recht auf Sexismus scheint ein Recht des „weissen Mannes“ zu sein, der damit munter weitermachen möchte. Darüber kann auch nicht die von Überlegenheitsrhetorik und Geschichtsblindheit triefende Empörung hinwegtäuschen. Bezeichnenderweise nutzen unzählige Boulevardblätter die Gunst der Stunde nach den Übergriffen, um wieder einmal eine halbnackte Frau auf dem Titelbild zu bringen. Sex sells. Und wenn damit gleich auch noch fremdenfeindliche Hetze gemacht werden kann, umso besser.

Ich bin angewidert. Angewidert darüber, wie viele Menschen tagtäglich von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Sie ist erniedrigend und mit nichts zu rechtfertigen – weder mit zu viel Alkohol noch mit antiquirierten Rollenverständnissen. Ich bin aber auch angewidert darüber, dass die Debatte über sexuelle Gewalt und Frauenrechte dafür missbraucht wird, rassistische Scheinheiligkeit zum Besten zu geben und sich in neokolonialistischer Manier über das „Fremde“ zu erheben. Schöner konnte das Jahr für alle rassistischen Empörten nicht beginnen: Mit grossen Worten durften sie sich als Frauenrechtler aufspielen, als Beschützer vor die bedrohte Gleichstellung werfen und mit ernster Miene „unsere“ Werte verteidigen, für die sie während der restlichen Zeit im Jahr nur sehr wenig übrig haben. Ganz ungestraft konnten sie Nordafrikaner und Araber pauschal unterstellen, Frauen als Freiwild zu missachten, und ihrer widerlichen Flüchtlingspolitik Nachdruck verleihen.

Was dabei tunlichst vermieden wird, ist über sexuelle Gewalt an sich zu diskutieren. Weil wir dann darüber diskutieren müssten, wie wir verhindern können, dass jede dritte Frau in ihrem Leben Opfer sexualisierter Gewalt wird. Weil wir dann darüber diskutieren müssten, dass das vermeintlich Vertraute die grösste Gefahr darstellt, sexuell ausgebeutet zu werden. Weil dann endlich darüber diskutiert werden müsste, dass sexuelle Belästigung und Sexismus erschreckend normaler Alltag ist. Und weil endlich die Debatte darüber geführt werden müsste, dass wir noch meilenwert davon entfernt sind, gleichgestellt zu sein. Da wären die Guten dann plötzlich nicht mehr alle so gut.

erschienen in der Wandzeitung vom 26. Januar 2016.

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