«Wir sind nicht die Partei des Gendersterns»

Wird die SP immer linker und geschlossener? Macht sie zu viel Identitätspolitik? Und wen vertritt sie eigentlich noch? Antworten der Co-Präsidentin Mattea Meyer in der NZZ am Sonntag vom 27. Juni 2021

Interview: Samuel Tanner

NZZ am Sonntag: Frau Meyer, am Freitag vor einer Woche sagte der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr, die SP drifte zunehmend nach links ab – und trat aus der SP aus. War das ein guter oder ein schlechter Tag für Ihre Partei?
Mattea Meyer: Das ist ein persönlicher Entscheid von Mario Fehr. Eigentlich hatten die Partei und er abgemacht, nach den Sommerferien zu kommunizieren. Dem kam er zuvor. Die SP des Kantons Zürich hatte eine Trennung in Anstand vollziehen wollen.

Noch am gleichen Tag entzündete sich eine Diskussion, die seit langem schwelt: Für wen hat es noch Platz in der SP?
Für alle, die sich für eine gerechtere, sozialere, ökologischere Zukunft einsetzen. Für diese Leute hatte es immer und wird es immer Platz geben. Auch unter unserem Co-Präsidium. Wir sind keine homogene EinThemen Partei, wir sind breit abgestützt in der Bevölkerung

Aber die Partei entwickelt sich in eine klare Richtung. Am Tag nach Fehrs Austritt gründete Ihr sozialliberaler Flügel zwar einen Verein. Doch das ist nur noch ein versprengtes Grüppchen.
Ich begrüsse es sehr, wenn sich eine Gruppe innerhalb der SP einbringen will. Inhaltliche Debatten stärken uns. Nur wenn im Zentrum der politischen Auseinandersetzung eine abstrakte Diskussion steht, wer der bessere und wer der schlechtere Sozialdemokrat ist, dann bringt uns das nicht weiter.


Nur ist doch eindeutig, wer in der Partei die Macht hat: eine Gruppe von früheren Jusos und Campaignern unter Cédric Wermuth und Ihnen als Co-Präsidenten.
Man macht doch der Schweizer Nati auch nicht den Vorwurf, dass sie die Fussballer aus der U21 rekrutiert. Woher sonst? Wohl nicht aus dem Eishockey. Das Gleiche bei der SP: Wir haben eine gute Nachwuchsförderung, das ist eine Stärke.

Sie verstehen die Bedenken nicht, die auch aus der Partei kommen?
Doch, ich kann eine gewisse Angst auch nachvollziehen: Wir sind eine Generation, die eine gemeinsame Geschichte hat. Nur möchte ich für uns in Anspruch nehmen, dass wir nicht ausgrenzend sind. Ein Beispiel, wie wir mit Konflikten umgehen: Cédric und ich waren in der AHV-Steuer-Vorlage anderer Meinung als sieben Achtel unserer Fraktion. Wir kämpften an der Delegiertenversammlung 2018 für ein Nein. Nachdem wir verloren hatten, sassen wir noch am gleichen Tag mit den Befürwortern in der Partei zusammen und formulierten ein Papier über Steuergerechtigkeit, um klar zu signalisieren: Wir lassen uns nicht entzweien.


Sie sagten vorher, die SP wolle eine Volkspartei sein. Wie definieren Sie das?

Man wirft uns immer vor, wir seien nur noch eine Partei der Cüplisozialisten. Aber das ist absurd: Wir werden von allen Einkommens- und Bildungsschichten sehr gleichmässig gewählt.

Sie sind nicht mehr die Arbeiterpartei, die Sie einmal waren.
Was heisst Arbeiter heute? Das ist auch eine Pflegefachfrau mit
schlechten Arbeitsbedingungen. Sie wählt wohl SP, weil sie weiss, dass wir uns für sie einsetzen.

Das klingt gut, nur: Der Erfolg ist nicht gerade durchschlagend. Die SP verliert stetig Wähleranteil.
Wir sind immer noch die stärkste linke Kraft. Aber natürlich sind wir nicht zufrieden mit 16,8 Prozent. Das ist nicht erfreulich. Unser Ziel muss es sein, gemeinsam mit den Grünen zu wachsen. Ich mache Politik aus Überzeugung, weil mich Ungerechtigkeit empört. Wir haben nicht den Politologen-Ansatz: Wo ist noch ein weisser Fleck, den wir erobern könnten?


Für wen kämpft die SP?
Für Menschen, die von Lohn und Rente leben.


Sind Sie eine materielle oder eine postmaterielle Partei?

Das ist eine intellektuelle Unterscheidung. Was wir wollen, ist ein gutes Leben für alle. Das bedeutet anständige Löhne und Renten, bezahlbare Mieten. Aber es bedeutet eben auch: Ehe für alle. Ein Ende sexualisierter
Gewalt. Stimmrecht für Menschen ohne Schweizer Pass.

Am Ende muss man sich manchmal entscheiden. Nehmen wir Europa, das Rahmenabkommen. Kämpfen Sie für den Arbeiter, der den Lohnschutz braucht – oder für die junge Frau, die in Europa studieren will?
Ist die Studentin nicht auch auf einen Lohnschutz angewiesen? Wir kämpfen für einen Lohnschutz, der allen hilft – nicht nur jemandem auf dem Bau. Einverstanden, für die Studentin ist der Lohnschutz nicht
das grösste Problem. Aber Menschen denken ja nicht ausschliesslich an sich, es gibt auch so etwas wie Solidarität.


Urbane SP-Wähler beschäftigen sich doch nicht primär mit materiellen, sondern mit postmateriellen Diskriminierungen: wegen Herkunft oder Geschlecht.
Warum muss ich mich zwischen Klassenpolitik und Identitätspolitik entscheiden? Warum? Ich kann mich doch gleichzeitig für die Ehe für alle und die 99-Prozent-Initiative der Juso einsetzen. Ich muss mich nicht entscheiden. Kommt hinzu, dass ein grosser Teil der sogenannten Identitätspolitik – etwa die Gleichstellungsfrage – einen ökonomischen Charakter hat.


Haben Sie «Die Selbstgerechten» gelesen, das Buch der deutschen Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht?
Ich habe einen eindrücklichen Dokumentarfilm über sie gesehen. Das Buch habe ich nicht gelesen.

Sie kritisiert, grobgesagt, den Fokus der Linken auf Identitätspolitik: In dieser Logik ist ein weisser, heterosexueller Mann, der für Uber arbeitet und 2000 Franken im Monat verdient, privilegiert gegenüber der studierenden Tochter einer aus Indien zugewanderten Ärztefamilie.
Beide werden diskriminiert, beide erfahren Privilegien. Der Mann gehört zum mächtigeren Geschlecht, kann aber nicht von seinem Lohn leben. Die Frau hat vielleicht keine materiellen Sorgen, weiss aber nicht, ob sie im Ausgang sexuell belästigt wird. Es ist nicht das eine weniger schlimm als das andere. Wenn ich mich zu Geflüchteten und Frauen äussere, räblet es oft E-Mails: Warum setzen Sie sich nicht für die Schweizer Rentner ein? Das mache ich. Solche E-Mails empfinde ich auch als Schrei: «Wir werden allein gelassen!» Diese Leute haben recht. Aber schuld ist nicht die indische Arzttochter, Schuld haben jene politischen Kräfte, die sich lieber um Konzerne kümmern statt um Menschen.


Aber wo setzen Sie die Priorität? Das ist die Kritik von Wagenknecht: Die Linke fokussiert zu stark auf Identitätspolitik.
Diese Kritik teile ich wirklich nicht. Wofür habe mich in den vergangenen Jahren eingesetzt? Für bezahlbare Wohnungen in Winterthur, gegen einen Rentenabbau bei den Frauen, für Selbständige in der Covid-19-Krise – das ist nicht das, was Sahra Wagenknecht als «LifestyleLinks» bezeichnet. Vergangene Woche haben wir das Referendum gegen die Stempelabgabe lanciert, da geht es um Steuerprivilegien für Konzerne in Milliardenhöhe. Das mediale Echo war bescheiden. Was man von mir wissen wollte: «Finden Sie es richtig, dass der Bund den Genderstern verbietet?»

Wie oft denken Sie über den Genderstern nach?
Ich will das nicht ins Lächerliche ziehen, Sprache ist sehr wirkmächtig. Ich will nicht einfach mitgemeint sein, ich will genannt werden. Aber wenn ich meine Kommissionsarbeit anschaue, dann ging es zuletzt darum, dass unsere Müttergeneration eine anständige Rente bekommt, nicht dass sie den Genderstern benutzt.


Aber solche Fragen sind doch virulent. Was sagten Sie, als Sie zum Genderstern-Verbot in der Verwaltung angefragt wurden?
Ich nahm keine Stellung.


Aber was finden Sie?
Der Bundesrat hat den Moment verpasst, eine Sprache einzuführen, die in der Gesellschaft an vielen Orten bereits Realität ist. Die SP verwendet eine gendergerechte Sprache in allen Dokumenten, aber wir sind nicht die Partei des Gendersterns. Wir sind die Partei gegen soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit – sprachliche Diskriminierung ist ein Teil davon.


Sie haben studiert, wohnen in der Stadt, in einem urbanen Umfeld – eigentlich sind Sie eine klassische Lifestyle-Linke.

Niemand muss sich für seinen Hintergrund schämen, nicht für einen Migrationshintergrund, nicht für einen Mittelstandshintergrund. Ich will nach dem bewertet werden, was ich mache, nicht nachdem, woher ich bin.

Als Sie im vergangenen Herbst zur Co-Präsidentin der SP gewählt wurden, thematisierten Sie in Ihrer Rede die Wut darüber, wie Sie als Frau behandelt wurden. Was ist seither passiert?
Es ging nicht spurlos an mir vorbei, dass über Monate behauptet wurde: Die ist ein Anhängsel von C6dric Wermuth. Es ging nicht nur um mich, diese Abwertung hat System. Wie sich das verändert hat? Ich glaube, einige haben gemerkt, dass auch ein Co-Präsidium auf Augenhöhe möglich ist.


Sie haben in der Corona-Krise klassische sozialdemokratische Politik gemacht: für das Gewerbe, für Selbständige. Cédric Wermuth schrieb ein Buch. Er schreibt Bücher, Sie schreiben Gesetze.

Natürlich haben wir andere Charaktere. Cédric ist stark darin, Inhalte auf den Punkt zu bringen. Ich bin die, die findet: So, jetzt entscheiden wir. Es ist ein gegenseitiges Ziehen. Ganz konkret: Ich bin schwanger und weiss, dass mit Cédric und dem Vizepräsidium alles wie gewohnt weitergeht, wenn ich im Mutterschaftsurlaub bin. Ich würde diesen Job nicht alleine machen wollen, es wäre sehr einsam.

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